Wednesday, February 15, 2012

24.000 Tote für 10 Jahre BIOSPRIT



Zu Tode geschuftet für den Biosprit 


Sandra Weiss aus La Isla, 14. Februar 2012 17:37

Zuckerrohrschneider in Mittelamerika sterben zu Tausenden an rätselhaftem Nierenversagen - Wissenschafter tippen auf zu schwere Arbeit, zu wenig Wasser und die Praktiken großer Agrarkonzerne

Die Schule von La Isla ist gepflegt für ein so kleines Dorf inmitten der weiten Zuckerrohrfelder im Westen Nicaraguas. Frischgestrichen in Weiß-Blau und blitzblank geputzt. Seit einiger Zeit gibt es sogar Computer. "Seit die Medien anfingen, über uns zu berichten", sagt Lehrer Roger de la Cruz. Von seinen 320 Schülern sind ein Drittel Waisen. Ihre Väter sind gestorben, mit 40, mit 30, die jüngsten erst Anfang 20. "Manchmal gibt es jeden zweiten Tag ein Begräbnis", sagt der Dorflehrer von La Isla. Der 6000 Einwohner zählende Ort wird im Volksmund nur noch "Die Insel der Witwen" genannt. Alle Männer starben an der gleichen Krankheit: chronischem Nierenversagen.
Eigentlich eine Zivilisationskrankheit, die ältere Menschen trifft. In La Isla ist das anders, fast alle waren junge Männer, kräftige Landarbeiter. Sieben von zehn Männern sind nach Auskunft der Nichtregierungsorganisation La Isla in dem Ort nierenkrank, in Europa ist es einer.


Zweithäufigste Todesursache
La Isla ist kein Einzelfall. In El Salvador ist Nierenversagen die zweithäufigste Todesursache bei Männern. In Nicaragua sterben mehr an Nierenversagen als an Aids und Diabetes zusammen. 24.000 Tote waren es in den vergangenen zehn Jahren in Nicaragua und El Salvador. Von 2005 bis 2009 wuchs die Zahl laut der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation in Nicaragua um 41 Prozent, in El Salvador und Guatemala um 26 Prozent.

Besonders hoch ist der Anteil im feuchtheißen Tiefland, wo Zuckerrohr und Baumwolle angebaut werden. Von einer "neuen Epidemie unbekannter Ursache" spricht die Weltgesundheitsorganisation WHO. Dass ihr auf dem Grund gegangen wird, dem stehen mächtige Interessen entgegen.

Salvadors Gesundheitsministerin María Isabel Rodríguez wollte die neue Krankheit auf die Liste chronischer Leiden auf dem amerikanischen Kontinent setzen - und stieß auf erbitterten Widerstand der USA. Rodríguez vermutet deshalb einen Zusammenhang mit dem jahrelangen Einsatz giftiger Pestizide ohne entsprechende Schutzmaßnahmen.

Das brächte internationale Chemiekonzerne in die Schusslinie. Und auch einheimische Firmen wie den Zuckerkonzern Pellas, der einer der reichsten Familien Nicaraguas gehört. Milliarden stehen auf dem Spiel. Nicht nur an Entschädigungen, sondern vor allem an Absatzmärkten.



Absatzmarkt Europa
Denn der Konzern plant, seine Zuckerrohrproduktion für den Ethanolexport in die USA und nach Europa auszuweiten. Zehn Prozent des Treibstoffs sollen laut EU-Richtlinie bis 2020 mit Agrotreibstoffen versetzt werden. Die USA fördern einem Wikileaks-Bericht zufolge massiv Biosprit in Mittelamerika, um damit den Einfluss des venezolanischen linken Präsidenten Hugo Chávez zu konterkarieren, der in den vergangenen Jahren mit Petrodollars und billigen Erdöllieferungen seine Fühler in den Hinterhof der USA ausgestreckt hat.

Aurora Aragón weiß, was auf dem Spiel steht. Die Medizinerin ist die Erste, die in Nicaragua die mysteriösen Todesfälle vor zehn Jahren entdeckt und untersucht hat. Sie hat Nierenwerte gemessen, Vergleichsstudien angestellt, Blutwerte und Grundwasser untersucht. Mit kaum staatlicher Unterstützung und einer totalen Blockade durch Pellas.

"Es gibt mehrere Hypothesen: Vergiftung durch Pestizide oder extreme Arbeitsüberlastung in heißem Klima ohne ausreichende Wasserzufuhr", zählt Aragón auf. Möglich ist auch eine Kombination dieser Faktoren. Zu einem ähnlichen Schluss kamen die Ärzte Carlos Orantes und Ramón Trabanino, die zeitgleich in El Salvador forschten. Analysen des Grundwassers haben zwar Belastungen mit Schwermetallen, Schädlingsbekämpfungsmitteln und Bakterien des Wassers ergeben, aber sie liegen unter den weltweit zulässigen Höchstnormen. Haben sich die Männer schlicht und ergreifend totgearbeitet?

 
Zuckerrohrschneider arbeiten als Tagelöhner im Akkord und bekommen ein Plus, wenn sie das vorgegebene Soll übererfüllen. Jede Minute, die mit Trinken oder mit einer Pause verbracht wird, ist "verlorene Zeit". Und noch einer neuen Vermutung geht derzeit ein US-Professor nach: dem Klimawandel. Der Wissenschafter will Temperaturkurven und Nierenerkrankungen in Nicaragua, Indien, Australien und Indonesien vergleichen. "Dies könnte möglicherweise erklären, warum das Phänomen erst in den 1990er-Jahren auftrat und auf Zuckerrohrplantagen in höhergelegenen Gebieten weniger geballt auftritt", sagt Aragón.

Neun Jahre Tagelöhner
Pablos Vater Salomón Marcelino Vargas sitzt er in einem Plastikstuhl vor seiner einfachen Ziegelhütte, blass und gekrümmt vor Schmerzen. Neun Jahre lang schuftete er als Tagelöhner auf der Plantage, die keine zehn Meter neben seiner Hütte beginnt. Pellas war lange der einzige Arbeitgeber weit und breit. 4200 Angestellte plus 1400 Saisonarbeiter hat die Firma. Viele sind eingestellt über Drittfirmen, haben Zeitverträge und sind nur so lange sozial abgesichert, wie ihr Vertrag läuft.

Von morgens sechs bis 15 Uhr war Vargas ohne Schutzkleidung unter sengender Sonne auf den Feldern, pflanzte Zuckerrohr, versprühte ohne Schutzkleidung Chemikalien, schnitt das erntereife Zuckerrohr. Sein Wasser musste er von zu Hause mitbringen. Vor zwei Jahren, kurz nachdem sein Bruder an Nierenversagen gestorben war, wurde auch bei ihm ein erhöhter Kreatininwert festgestellt. Vargas wurde nicht wieder eingestellt. Mit 40 Jahren und sieben Kindern, das jüngste ist zwei. Bei neun liege sein Kreatininwert, sagt er, normal sind Werte um die 1,2.
Alle im Dorf glauben, dass Pellas schuld an der Krankheit ist. Das Unternehmen, Hersteller des weltberühmten Rums Flor de Caña, weist Vorwürfe wie diese zurück. "Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern und der Erkrankung", sagt Firmensprecher Ariel Granera im neunten Stock des verspiegelten Firmensitzes in der Hauptstadt Managua.

"Seit Jahren verwenden wir nur von der Regierung zugelassene Pestizide, die Arbeiter werden mit isotonischen Getränken und einem ausgewogenen Mittagessen versorgt und haben ein Ruhezelt, wo sie sich im Schatten erholen können. Die Firma hat vier Millionen US-Dollar investiert für Medikamente, den Ausbau der Straßen und des Spitals, für Mikrokredite und landwirtschaftliche Projekte in der Region", zählt er auf.


Wenig Wasser, viel Arbeit
Ignorieren kann Pellas die Todesfälle nicht mehr. Als das Unternehmen 2006 einen Kredit bei der zur Weltbank gehörenden IFC beantragte, um eine Ethanolfabrik zu bauen, wurde dieser nach Protesten der Arbeiter zunächst auf Eis gelegt und eine Schlichtungsinstanz einberufen.
 
Die Universität von Boston testete im Auftrag von Weltbank und Pellas Pestizidrückstände im Blut der Arbeiter und fand keine erhöhten Werte. Ein Persilschein für Pellas ist das aber nicht. "Alles deutet auf extreme Dehydrierung bei großer Hitze und schwerer körperlicher Arbeit hin", bestätigt auch ein Bostoner Wissenschafter die Vermutungen seiner Kollegen aus Mittelamerika.

Nicaraguas sozialistische Regierung ignoriert das Problem weitgehend. Kosten für Dialyse und Nierentransplantate sind unerschwinglich in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Die Regierung hat wenig Mittel und andere Prioritäten - anders als im Nachbarland El Salvador.
Die Regierung dort ist zwar der Ursache auch noch nicht auf die Schliche gekommen, hat aber immerhin ein staatliches Unterstützungsprogramm aufgelegt - mit kostenloser Dialyse einschließlich Transport ins Krankenhaus und ständiger medizinischer Überwachung.
 
Die Einwohner von La Isla hingegen haben die Hoffnung fast schon aufgegeben. Während Granera im Pellas-Hochhaus am sauberen Image des Unternehmens bastelt und Aragón versucht, weitere Forschungsmittel aufzutreiben, kämpft Vargas um sein Leben. Und Dorflehrer de la Cruz tut sein Bestes, um mit einem Animationsprogramm am PC doch noch ein Lächeln auf die Gesichter seiner Schüler zu zaubern.




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