Sunday, July 24, 2011

Wir sind Europa!

Medienberichte, in denen über die EU auf positve Weise geschrieben wird und vorteilhafte Entwicklung für uns EU-Bürger lobend erwähnt werden, sind derzeit ein bisserl seltener geworden. 
Um uns mal wieder in Erinnerung zu rufen, welch positive Auswirkungen der europäische Integrationsprozess seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht hat und dass etwa ein weiterer Krieg innerhalb der Union unvorstellbar geworden ist, poste ich diesen Artikel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 
Hier in Berlin, der ehemaligen Ost-West Front während des Kalten Krieges, zu wohnen bedeutet auch, nach wie vor kontinuierlich mit dem jahrzehntelangen Konflikt konfroniert zu sein - sei es wenn ich auf meinem Weg zur Uni am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie vorbeifahre, Mauerreste quer durch die Stadt vorfinde oder auch durch Gespräche mit Zeitzeugen  ... sehr interessant, und regt vor allem zum Nachdenken an!




Angst vor der Transferunion?    Heimat Europa

Sollte dieser Versuch der Integration Europas Schaden nehmen, so wird es keinen weiteren geben. Eine Union ohne ständigen Transfer von Gütern, Geldern und Ideen aber wäre wie eine Ehe ohne Geschlechtsverkehr - fad, kraftlos und ohne Gewähr auf Zukunft.


21. Juli 2011 

Die jungen Deutschen leben nicht in Deutschland, sie leben in Europa. Den meisten ist das nicht bewusst - ein erstes Anzeichen von Selbstverständlichkeit. Manche aber wollen es nicht wahrnehmen. Doch das Deutschland, in dem sie zuhause sind, ist längst kein Nationalstaat mit festen Grenzen und eindeutigen Eigenschaften mehr.
Gerade junge Leute, deren persönliche Erinnerung oft nicht einmal bis zur weltpolitischen Wende von 1989/90 zurückreicht, auch wenn sie diese in frühen Jahren erlebt haben, erwarten mit bisweilen offensiver Selbstverständlichkeit, dass es in Berlin und Paris, Madrid und Rom, Lubljana und Amsterdam gleichermaßen zugehe, wenn sie dorthin kommen.

Keine Passkontrollen an Grenzen und Flughäfen, verlässliche Lebensmittelvorschriften an allen Orten, Meinungs- und Pressefreiheit nach denselben Standards, leichte Aufnahme von Studentenjobs, Vorkehrungen gegen zu hohe grenzüberschreitende Handy-Gebühren (über deren zentralisierte Regelung sich keiner wundert) und ein unreglementierter Umgang zwischen jungen Frauen und Männern. Das eine oder andere ist jenseits der Grenzen der EU durchaus anders.
Bei Reisen nach Budapest, Kopenhagen oder Prag Geld umtauschen und sich Wechselkurse merken zu müssen, gilt bereits als Behinderung der Lebensweise. Immerhin gelten die meisten kostenlosen Bankkarten und nicht nur die teuren Kreditkarten an den Bankautomaten. Der Euro ist in Deutschlands Nachbarschaft zu einer Selbstverständlichkeit geworden, deren Nichtselbstverständlichkeit erst dann bewusst wird, wenn die freihändige Zahlungsfähigkeit auf Widerstände stößt. Falls in einer ungarischen Boutique die hervorgezogenen Euros nicht akzeptiert werden, dürften deutsche Kaufwillige mit Unverständnis reagieren.

Was ist im deutschen Alltag noch so deutsch, dass es nicht europäische Gepflogenheit wäre? Die Wehrpflicht, die bis vor kurzem einen Unterschied zu den Ländern mit Freiwilligen-Armeen darstellte und den Übergang vom Schülerleben zur (aus-)gelebten Volljährigkeit eher störte als unterbrach, ist auch schon abgeschafft. Die jüngsten Grenzen negierenden Studienordnungen treffen auf vielerlei Kritik, aber dem Wesen nach sind sie ein weiterer Schritt, Deutschland europäisch und Europa deutsch zu gestalten.
Selbst das Wahlrecht ist nicht mehr exklusiv. Wer eine Französin oder einen Franzosen geheiratet hat und in Oberhausen oder Kiel lebt, kann mit dem Partner gemeinsam zur Oberbürgermeisterwahl gehen. Die deutschen Studenten in Groningen können, wenn sie Lust dazu haben, gemeinsam mit ihren niederländischen und weiteren Kommilitonen aus den EU-Staaten die Kommunalpolitik der Stadt aufmischen - eigentlich ohne darüber nachdenken zu müssen, wieso ihnen als Ausländern dieses Recht in einem fremden Nationalstaat zusteht.
Das Prinzip, das da wirksam wird, heißt Gegenseitigkeit. [...] Was den Großen an Rechten zuteil wird, steht auch den Kleinen zu. Deutschland und Luxemburg sind gleichberechtigt. Das alte Sinnbild, nach dem der Kellner aus Sympathie entweder dem Ausländer oder aber dem Landsmann den besten Platz anbietet, ist aus dem Alltag verschwunden. Nicht der Fremde ist zwischen Berchtesgaden und Flensburg, zwischen Helsinki und Lissabon mehr der Fremdkörper, sondern derjenige, der gegenüber dem Fremden fremdelt.

Man muss wissen, was die Heimat wert ist

Dies alles, die Europäische Union im Ganzen und die Euro-Währungsunion im Besonderen, ist für die Jugend so selbstverständlich, dass daran zu erinnern ist, dass dies noch vor zwei Jahrzehnten nicht selbstverständlich und sein Ursprung vor sechzig Jahren geradezu ein politisches Wunder war. Die größte Bedrohung für das Erreichte kommt nun daher, dass nicht nur ältere, sondern auch junge Deutsche jetzt von der Angst vor einer Transferunion umgetrieben werden. Dabei enthält schon das Wort Union die Notwendigkeit des Transfers, denn eine Union ohne ständigen Transfer von Gütern, Geldern und Ideen zwischen ihren Mitgliedern ist wie eine Ehe ohne Geschlechtsverkehr - fad, kraftlos und ohne Gewähr auf Zukunft. Und wenn sie trotz emotionaler Abschottung dennoch überlebt, ist ihre Widerstandskraft gegen Zudringlichkeiten oder Verlockungen von außen erschlafft.
Sollte den jungen Leuten in den Sinn kommen, den Zusammenhalt Europas nicht gegen alle Schwarzmalereien verteidigen zu wollen, weil er ihnen als so selbstverständlich erscheint, dass sie seine Gefährdung gar nicht für denkbar halten, dann ist ihnen zu sagen: Trotz ihrer langen Lebenserwartung wird es zu ihren Lebzeiten keinen zweiten Versuch zur Integration Europas geben, falls der erste insgesamt oder an den Rändern Schaden nähme.
Es ist gar nicht so lange her, da gab es dort, wo heute das geeinte Deutschland ist, Grenzen, die waren schärfer als jetzt die Grenzen im Schengenraum. Die Einheit Deutschlands wurde zwar nicht durch ein Transferversprechen verursacht, auch wenn ein riesiger Transfer nötig war, erwartet wurde und tatsächlich folgte, aber sie wäre an einer grundsätzlichen Transferverweigerung gewiss gescheitert. Einen zweiten Anlauf hätte es lange nicht gegeben. Was aber hätte Westdeutschland damit gewonnen? Man muss wissen, was die Heimat wert ist.

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: dpa

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